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Titel
Europa und die Türkei 1856–1875. Geheime Dokumente aus den Kanzleien der europäischen Großmächte


Herausgeber
Baumgart, Winfried
Erschienen
Paderborn 2023: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
1.164 S.
Preis
€ 169,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Markert, Forschungszentrum Europa, Universität Trier

Innerhalb der Geschichtswissenschaft genießen Editionen auf der Ebene von Fachdiskursen einen ambivalenten Ruf. Einerseits werden sie lediglich in Ausnahmefällen als legitime, als „vollwertige“ Forschungsprojekte wahrgenommen, gelten gar als Hindernisse für die akademischen Karriereleiter. Andererseits ist es ein unausgesprochenes Faktum, dass das Fach ohne gedruckte Quellensammlungen qualitativ wie quantitativ in hohem Maße leiden würde – eine systematische Archivarbeit ist zeitaufwändig, anders als der Griff ins Bibliotheksregal. Daher ist jede Publikation zu begrüßen, die jenes Regalangebot erweitert, und der Forschung neue Quellen, neue Fragestellungen und neue Erkenntnisse anbietet.

Besondere Verdienste auf diesem Gebiet erwirbt sich seit längerem Winfried Baumgart, der nicht müde wird, beinahe im Jahresrhythmus druckfrische Editionen zu publizieren. Die Historiographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts profitiert von Baumgarts exzeptioneller Transkriptionstortur, die den – hoffentlich nicht wenigen – interessierten Fachleser:innen regelmäßig mit bislang unbekannten oder unbeachteten Archivalien in Berührung bringt. Mit der vorliegenden Sammlung diplomatischer Akten zum Verhältnis der europäischen Großmächte zum Osmanischen Reich in den Jahren 1856 bis 1875 begibt sich der Mainzer Emeritus gewissermaßen back to the roots, veröffentlichte er doch zwischen 1979 und 2006 beinahe im Alleingang die zwölfbändige Aktenedition zur Geschichte des Krimkriegs – mittlerweile ein Standardwerk, an dem keine Krimkriegsforschung vorbei kann. Auch die über 1.000-seitige Neuerscheinung möchte ein Quellenerschließungs- ergo Forschungsdesiderat beheben, war die sogenannte Orientalische Frage doch in jenen fast zwei Jahrzehnten zwischen dem Pariser Frieden und dem Ausbruch der Balkankrise bislang historiographisch lediglich marginal präsent. Diese Lücke auf beachtenswerter Quellengrundlage zu schließen, die hoffentlich Anreiz zu neuen Arbeiten sein wird, gelingt Baumgart auch – so viel sei vorweggenommen.

Auf den ersten Blick ist es schier überwältigend, wie viele Dokumente in dem umfangreichen Band gesammelt vorliegen: Insgesamt 1.778 Quellenstücke britischer, französischer, österreichischer, russischer und preußisch-deutscher Provenienz. Zu bedauern ist, dass etwa die Hälfte dieser Dokumente sich aus Regesten bereits andernorts publizierter Quellen zusammensetzt. Nicht nur bleibt der Leserschaft der weitere Griff ins Regal nicht erspart, auch wird der Anschein einer Vollständigkeit erweckt, die die Quellensammlung nicht erreichen kann, wie der Herausgeber selbst konzediert (S. VIII). Gleichzeitig bewegt man sich bei der Lektüre nicht nur mit Blick auf die Dokumentenauswahl innerhalb der engen Interessensgrenzen des Bearbeiters, sondern auch, was den Dokumententext betrifft: Auch hier bleibt Baumgart seiner tradierten Editionspraxis treu, all die Textpassagen den Leser:innen vorzuenthalten – immerhin handelt es sich um kenntlich gemachte Kürzungen –, die er als thematisch irrelevant oder historiographisch uninteressant betrachtet. Es drängt sich daher die Frage auf, ob es nicht wissenschaftlich gewinnbringender gewesen wäre, bei einer Printedition auf die umfangreichen Regesten zu verzichten, und das begrenzte Druckpapier stattdessen in Gänze neuen und vollständigen Quellen zu widmen.

Denn die von Baumgart recherchierten und erstmals abgedruckten Archivalien wissen unser Bild über die Politik der Pentarchie gegenüber der Hohen Pforte facettenreich zu erweitern. Deutlich sichtbar wird vor allem, wie sehr die unmittelbaren und langfristigen Folgen des Krimkriegs die Agenda und Handlungsparameter der jeweiligen Großmächte prägten, sie teilweise geradezu determinierten. So verfolgte das Zarenreich nicht nur das Ziel, die Niederlage von 1856 zu revidieren, sondern auch die Petersburger Hegemonialbestrebungen auf dem Balkan auf Kosten der territorialen Integrität des Osmanischen Reichs zu realisieren. Der Ausbruch eines neuen russisch-osmanischen Krieges 1877 kann durchaus als logische Konsequenz dieser zwanzigjährigen zarischen Orientpolitik charakterisiert werden. Zeitweise versuchten interessanterweise ausgerechnet österreichische Diplomaten, Russlands destruktiver Balkanagenda entgegenzuarbeiten, um über ein Neuaufrollen der Orientalischen Frage das traditionelle Vormärzbündnis zwischen Habsburger- und Romanowmonarchie zu restaurieren – eine letztendlich erfolglose Strategie. Denn der Petersburger Hof suchte während der 1860er-Jahre die Nähe des Seconde Empire unter Napoleon III., des ehemaligen Kriegsgegners. Wie Baumgart überzeugend argumentiert, betrachtete der französische Kaiser die schwelende Orientalische Frage als Teil einer außenpolitischen Pressionsstrategie, „die Nationalitäten in Europa aus den Vielvölkerreichen“ zu „lösen, um sie von Frankreich abhängig zu machen und damit die Ordnung des Wiener Kongresses von Grund auf umzugestalten“ (S. 10). Obgleich die Pariser Orientpolitik daher eine potentielle Gefährdung des Pentarchiekonzerts darstellte, blieb gerade London an diesem geopolitischen Hotspot dezidiert „uninteressiert, es verhielt sich höchstens reaktiv“ (S. 16). Das öffentlichkeitspolitische Krimkriegstrauma setzte der britischen Diplomatie bis in die 1870er-Jahre implizite Grenzen. Ein kurioses Urteil kann dagegen über die Berliner Orientpolitik – Baumgart spricht durchgehend und unterkomplex von „Bismarcks“ Orientpolitik – formuliert werden: Einerseits berührten die Balkanereignisse die Sicherheits- und Machtinteressen der Hohenzollernmonarchie lediglich peripher, spielten für die preußisch-deutsche Außenpolitik vor allem als Irritations- oder Einflussfaktor innerhalb der Politik der Großmächte eine Rolle – etwa mit Blick auf die Beziehungen zu Russland, oder indirekt als diplomatischer Nebenschauplatz des Reichsgründungsprozesses. Andererseits schien Berlin die Orientalische Frage mit exzeptionellem Interesse zu beobachten, denn „die Masse der überlieferten Akten […] hinsichtlich des Schriftverkehrs mit Konstantinopel“ übertrifft nach Baumgarts Recherchen „bei weitem die jeweiligen Bestände zu den Beziehungen zu St. Petersburg, Wien, London und Paris“ (S. 1121).

Diese langfristigen Pentarchieagendaperspektiven können dank der nunmehr gedruckt vorliegenden archivalischen Kärrnerarbeit in zukünftigen Studien minutiös analysiert werden. Will sich die Forschung der Orientalischen Frage zwischen Krimkrieg und Balkankrise jedoch jenseits traditioneller diplomatiehistorischer Fragestellungen nähern, kann sie Baumgarts Edition lediglich als ein Hilfsinstrument nutzen. Denn die neupublizierten Quellen wurden nach vergleichsweise apodiktischen Ausschlusskriterien einer klassischen Diplomatiegeschichte ausgewählt, die nahezu ausschließlich jene amtlichen Akten aus amtlichen Archiven berücksichtigen, die ihren Weg über die Schreibtische außenpolitischer Entscheidungsakteure fanden. Eine breitere Miteinbeziehung von Quellen differenzierter Natur wäre wünschenswert gewesen, um das Feld neueren Fragestellungen zu öffnen und tradierte Narrative zu hinterfragen.1

Deutlich tritt dieser diplomatiehistorische Monoperspektivismus auch wiederholt in Baumgarts Einleitung hervor: Die Ausführungen zu den innerosmanischen Politik- und Gesellschaftsentwicklungen beispielsweise, ergo zur Zukunftsfähigkeit des von der Hohen Pforte regierten Imperiums, basieren ausschließlich auf den diplomatischen Berichten der Großmächterepräsentanten vor Ort, deren Urteile unkritisch übernommen werden (S. 3–8). Eine solche europerspektivische Geschichtsschreibung außereuropäischer Entwicklungen kann im 21. Jahrhundert nicht mehr unwidersprochen stehen gelassen werden, sondern muss mit Blick auf die moderne Forschung jenseits der Gesandtenpalais mindestens kritisch hinterfragt werden.2 Auf eine Auseinandersetzung mit der thematisch relevanten Forschungsliteratur – egal ob veraltet oder modern – verzichtet Baumgart in seiner Einleitung jedoch völlig, ebenso in den Dokumentenanmerkungen. Die im Quellen- und Literaturverzeichnis genannte genuine Forschungsliteratur findet keine weitere Berücksichtigung. Diese quantitative wie qualitative Selbstbeschränkung ist kaum nachvollziehbar angesichts vergleichbarer Editionen jüngsten Datums, deren Bearbeiter:innen die publizierten Quellen multiperspektivisch in bestehende Forschungskonsense und -kontroversen einbetten.

Lassen sich an Winfried Baumgarts neuester Publikation die Grenzen studieren, die dem Genre der klassischen Edition auferlegt sind, so verdienen die Zeit- und Arbeitsmühen, die sich hinter der Recherche, der Transkription und Auswertung der Massen von Archivakten verbergen, uneingeschränkt höchste Anerkennung. Die hier erstmals abgedruckten Quellen stellen für die Forschung einen echten Gewinn dar und es bleibt zu wünschen, dass sich nicht wenige Historiker:innen finden werden, die den vom Mainzer Emeritus gesponnenen Faden aufnehmen – und dass dieser uns auch in Zukunft mit liebgewonnener Regelmäßigkeit neue Archivschätze präsentieren wird.

Anmerkungen:
1 Archivbestände, die einen Blick beispielsweise auf die Berliner Orientpolitik jenseits der offiziellen diplomatischen Kanäle erlauben, sind die Tagebücher und Korrespondenzen Leopold von Gerlachs im Erlanger Gerlach-Archiv (GA) – insbesondere GA, LE02759–LE02762; sowie GA, LE02772–LE02776 – oder der umfangreiche Briefwechsel Wilhelms I. im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) in Berlin-Dahlem – insbesondere GStA PK, BPH, Rep. 51, Nr. 853; GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509; sowie GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 511a.
2 Beispielhaft sei hier Barbara Hennings ausführliche Studie zur Identitäts- und Loyalitätsentwicklung osmanisch-kurdischer Bevölkerungskreise im 19. und frühen 20. Jahrhundert genannt. Vgl. Barbara Henning, Narratives of the History of the Ottoman-Kurdish Bedirhani Family in Imperial and Post-Imperial Contexts. Continuities and Changes, Bamberg 2018.

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